Stein und Grashalm

Stein und Grashalm

Am Wegesrand lag ein Stein, etwa haselnussgroß. Der wachte auf und sprach: "Ich reise ab! Heute noch!" "Na dann gute Fahrt", versetzte der Grashalm, windgebeugt. Und er war beleidigt. Sein ganzes Leben lang hatte er geduldig neben dem Stein ausgeharrt, und dessen Schlaf gehütet und ihm gelegentlich frische Luft zugefächelt. Und jetzt das. So also wird Treue gelohnt.

Da kam ein Mensch in großer Hast den Weg heraufgeflitzt und gleich dahinter ein zweiter, der drohte mit der Faust gegen ihn und rief: "Haltet den Dieb!" Der Grashalm fragte sich, ob damit er gemeint sei, da bückte sich der Nacheilende nach einem Stein - nach diesem Stein - und schleuderte ihn mit aller Kraft und sieben tollen Flüchen dem Fliehenden hinterher. Und der Stein flog im hohen Bogen durch die Luft. "Gib auf dich acht!", rief ihm der Grashalm nach. "Und schreib mal!"

Aber der Stein war jetzt auf Reisen, und der Fahrtwind sauste ihm so sehr um die Maserung, dass er den Abschiedsgruß nicht mehr vernahm. Er flog hoch und höher, gelangte ein Sekündchen über die Baumwipfel, sah den Himmel mit seinen Blau und seinen Wolken, und sauste dann geradewegs wieder der Erde zu. Er traf auf einen Ast, klickerte wie eine Billardkugel zwischen den Baumstämmen hin und her und landete zuletzt mit einem Krachen in einem frisch gemachten Vogelnest. Muttervogel schreckte auf, Vater Vogel ging K.O. Das Nest war hin. Sie beäugte den Stein missmutig von allen Seiten und befühlte ihn, ob er zu brüten sei. "Wag es nicht!", dachte der Stein. Und mit einem verächtlichen "Piep" fegte sie ihn geradewegs aus dem Nest.

Er stürzte und fiel, und die Reise ging weiter. Denn eben spazierte ein Mann mit Stock und Hut unter dem Baum vorüber, in dem das Nest gelegen war. Und der Stein landete gradewegs in dessen Hutkrempe. "Guten Tag", dachte er höflich und hoffte, nicht auch hier sogleich hinausgeworfen zu werden.

Aber der Mann spazierte weiter und hatte nichts bemerkt. Schließlich kam er in ein Dorf. Da war grad Sonntag, und allerlei Volk war auf den Beinen und schlenderte hierhin und dorthin. Der Mann grüßte bald diesen, bald jenen, indem er leicht mit dem Kopf nickte, oder nachlässig an die Hutkrempe fasste, aber als ihm da eine rosa Dame des Wegs entgegenkam, blieb er stehen und redete sie an. "Guten Tag, meine Schöne. So allein unterwegs?" Die rosa Dame lächelte fein und sagte: "Mein Herr, ich flaniere gerade und möchte nicht unterbrochen sein." "Alles, was Sie wünscht", säuselte der Mann. "Bei mir haben sie einen Stein im Brett für alle Zeit". "Aha", dachte der Stein im Hut, "ein Bruder in Gefangenschaft", und er war ganz ergriffen. Aber ehe er seine Ergriffenheit noch recht begriffen, machte der Mann eine tiefe Verbeugung und zog den Hut, derweil die rosa Dame vorüberflanierte. Und der Stein tat einen weiteren Sprung, nur um ein einem Schubkarren voll Sand und Geröll zu landen, den ein gottloser Mensch an der sonntäglich läutenden Kirche vorbei schob, daraus der Pfarrer mit finster Miene auf ihn blickte. Der Mensch ging um die Ecke, schob den Karren den Weg hinauf bis an einen Schuttplatz.

Und so fand der Stein sich zuletzt inmitten von Geröll und Staub und Sand in eine karge Wüstenei versetzt, aus der er jahrelang nicht mehr fortkam. Der Grashalm aber heiratete ein Büschel Stroh, das einem vorbeitrottenden Pferd aus dem Mundwinkel gefallen war, und lebte glücklich bis zum nächsten Buschbrand.

Und die Moral von der Geschichte lautet nicht etwa "Wer irgendwo einen Stein im Brett hat, soll ihn gefälligst laufen lassen!", nein, die Moral dieser Geschichte ist: "Wer aus dem Urlaub nicht mal eine Postkarte schreibt, der soll ruhig in der Wüste bleiben."

© Marc Fey

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