Manfred Schmitz

Manfred Schmitz

Lass´ mich dich, geneigter Leser in eine sehr, sehr langweilige Welt entführen, und zwar in die Welt des Buchhalters Manfred Schmitz. Manfred ist nur einer unter vielen belanglosen Buchhaltern in einer großen, blödsinnigen Firma, die ihren eigentlichen Zweck lange vergessen und sich mit der Zeit, ganz ohne es zu bemerken, völlig der Aktenordnerei verschrieben hat. Manfred lebt unscheinbar in einem grauen Alltag, hat keine Freunde, ist korrekt, verklemmt und gnadenlos langweilig. Gerade so ein Manfred, den, wenn es um die Wahl eines passenden Spitznamen ginge, jeder nur Fred nennen würde und niemals Manni. Er sieht langweilig aus, kleidet sich farblos, wohnt in einer öden, grauen Wohnung und tut den ganzen Tag mit Leidenschaft langweilige Dinge, kurz: Er ist die Öde selbst. Eigentlich gäbe es also, möchte man meinen, keinen Grund, Worte über ihn zu verlieren, wäre da nicht dieses kleine, heimliche Hobby, das er pflegt: Er schreibt. Kaum etwas Interessantes, nichts Tiefes oder Bedeutsames, doch bereitet es ihm stilles Vergnügen, Gedanken und Ideen, die er hat, in einem kleinen roten Buch festzuhalten. Und mögen sie uns auch noch so nutzlos und ohne jeden Wert erscheinen, so ist doch dieses Büchlein, ohne dass er es selbst recht weiß, seine letzte fruchtbare Verbindung zu sich selbst. Gerade jetzt, heute Abend, sitzt er wieder (steif wie immer) in seiner kleinen, grauen Kammer auf dem Bett und schreibt. Wir nun wollen ihn ein wenig dabei beobachten und vorsichtig einen Blick über schmale Schultern in das rote Büchlein wagen, in das der Buchhalter Manfred Schmitz mit zittrigen, kleinen Buchstaben zu erzählen begonnen hat. Neben ihm auf dem Bett liegt ein Bild von einem Mann, offenbar aus einer Zeitung herausgetrennt und schon etwas zerknittert. Es ist ein Bild bei dem einem sogleich Gedanken wie ´Draufgänger´, ´schlechter Vater´, ´harter Arbeiter´ oder ´vom Leben gezeichneter Einzelgänger´ durch den Kopf gehen. Nun, Manfred denkt dabei eher an einen Helden, eine coolen Typen, der mit allem fertig wird, und er hat ihm den Namen John gegeben. ´Harter John´ um genauer zu sein, und über diesen Helden will er nun schreiben. Der Mann auf dem Bild hat breite Schultern, starke Arme und ein forsches Gesicht mit klaren doch harten Augen. Seine Züge sind scharf, das kräftige Kinn unrasiert, und das halbgeöffnete Hemd zeigt eine behaarte Brust. Verwegen!

John, schreibt Manfred, kam von irgendwo her. Er hatte eine lange und gefährliche Reise hinter sich. Als die glühende Mittagssonne heiß auf die schmutzigen Dächer der kleinen, einsamen Stadt brannte, ging er cool und gemächlich die vom aufgewirbelten Staub dunstige Straße hinunter und blickte aus seinen scharfen Augen forsch um sich. Alle, die er ansah, schlugen rasch die Blicke nieder und wagten erst, als er an ihnen vorbeigegangen war, ihm heimlich nachzuspähen und hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln. John kümmerte sich nicht um die Leute. Er ging an ihnen vorbei und wusste, dass sie unwichtig waren. Er verachtete sie. Vor einem Haus mit verblichen grüner Fassade, blassroten Verschlägen und einer alten Schwingtür blieb er stehen, lächelte, als er das an einer rostigen Kette über der Tür baumelnde Schild las, und trat ein. Die Absätze seiner Lederstiefel pochten hart auf alten Holzdielen. Er betrat eine düstere Kneipe. Nein, einen Saloon wäre richtiger gesagt, und der war ganz so, wie ein rechter Saloon sein sollte. Tische, derbe Stühle standen rum, dran saßen zwielichtige Gestalten, tranken, spielten Karten, murmelten. Es gab einen kleinen, verschüchterten Klavierspieler, und am Ende des schlecht gelüfteten, nebligen Raumes war eine lange Bar. Das Klavier verstummte, die Gestalten schauten von ihren Karten und Getränken auf, und einen Moment lang war es totenstill, als John langsam den Raum betrat. Mit einem kurzen, scharfen Blick nahm er alles wahr; den Klavierspieler, die Gestalten, Tische, Stühle, einfach alles. Er blickte jäh in die Runde (grimmig), und die Gestalten eilten sich, wieder ihren Beschäftigungen nachzugehen als ob nichts wäre. Irgendwo pfiff sogar jemand ein harmloses Lied. John war zufrieden. Er ging langsam durch den Raum auf die Theke zu, hinter der ein dicker Kellner verzweifelt so tat, als poliere er die stumpfen Gläser. John knallte die flache Hand auf die Theke, stand still und schaute ihn fest an. Der Kellner erzitterte merklich, tat einen Schritt zurück und stieß ein paar Gläser um, die klirrend zu Boden fielen. "Was darf es sein?" hauchte er vorsichtig und bemühte sich, dem messerscharfen Blick des harten John auszuweichen. Stille...! Nichts rührte sich. Irgendwo erlitt eine Ratte einen Herzinfarkt und starb. Ja, es schien fast, als habe selbst die Zeit für einen Moment den Faden verloren und erwarte gespannt und verschüchtert die Antwort des harten John. Stille...! "Ein Bier!" tönte es plötzlich tief und rau aus dem Mund des Helden, und alles atmete erleichtert auf. Die Zeit nahm den Faden wieder auf, die Gestalten tranken, das Klavier spielte und so weiter.... Der Kellner stolperte davon, eilte sich, das Bier zu bringen, hob dankend das kostbare Silberstück auf, das John ihm vor die Füße warf und schlich dienernd hinter die Bar. Dann stand der harte John ganz cool da an der Theke und trank das kühle Bier, verzog dabei keine Miene und beachtete niemanden.

Manfred legt den Bleistift hin und atmet tief durch. Bis hierher gefällt es ihm sehr gut. John ist gerade so, wie er ihn sich vorstellte. Ein echter Held, der alles im Griff hat, furchteinflößend und verehrungswürdig. Aber ehrlich gesagt muss er feststellen, dass ihm ein bisschen unklar ist, wie es denn nun weitergehen soll. Er schaut auf das Bild, seufzt und starrt auf seine Hände. "Na klar!" sagt er plötzlich, "es wird etwas ganz besonders Heldenhaftes geschehen: Er wird eine schöne Frau vor einem üblen Burschen retten." Eifrig macht er sich wieder ans Werk.

Also wo war ich. John stand an der Theke und war zufrieden. Er trank ein Bier und hatte es sich verdient. Doch da plötzlich wurde seine Ruhe gestört, und das ärgerte ihn sehr. Eine schöne Frau kam in den Raum gestolpert und lief stolpernd zur Theke. In ihren Augen standen Tränen, sie war geschlagen worden, und sie blickte sich hilfesuchend um. Plötzlich aber öffnete sich die Tür erneut und herein stampfte ein riesengroßer Kerl mit dicken behaarten Armen und einem bärtigen, vernarbten Gesicht. "Ha, da bist du ja, du Schlampe", grunzte er und ging drohend auf die schöne Frau zu. John starrte gelangweilt auf sein Bier. Sie begann zu weinen, versuchte, dem groben Kerl auszuweichen und schaute verzweifelt im Schankraum umher, ob da nur einer wäre, der es wagen wollte, ihr zu helfen. Und zu der Furcht in ihren Augen mischte sich brennende Wut über die Angst und Faulheit der unbeteiligt dasitzenden Gestalten. "Komm mit!" knurrte der Kerl grimmig und packte sie am Arm, dass es sie schmerzen musste. "Komm schon und zier´ dich nicht." John stand cool da und starrte auf seine Hände. Der Kerl versuchte sie wegzuzerren, doch sie trat ihn, schlug ihn so fest sie es vermochte; tapfer und verzweifelt, standhaft doch hoffnungslos. Da wurde der Bärtige wütend, erhob drohend die Hand und wollte sie in ihr schönes Gesicht schlagen. Jedoch der Hieb erreichte nie sein Ziel. Gleichsam gelangweilt doch blitzschnell, so wie eine Schlange beißt, fuhr der harte John herum, fing den Schlag ab, packte den starken Arm mit sicherem Griff und bog ihn hart nach unten. Dann sah er den riesigen Kerl cool an und sagte ruhig: "Sie gehört zu mir." Seine Augen funkelten hell. Die Gestalten schauten interessiert auf, erwarteten ein spannendes Schauspiel, doch der hünenhafte Kerl erbleichte. "Der harte John!" stammelte er und die Knie begannen ihm zu schlottern.

Manfred beginnt auf dem Bett aufgeregt hin und her zu wippen. Ja, so gefällt es ihm. Jeder kannte John, denn er war ein Held, und allein ein Wort von ihm genügte, um selbst den stärksten Halunken in die Flucht zu schlagen. "Und die Frau", ruft Manfred aus, "wird dankbar zu ihm aufschauen und ihn anbeten." Freudig beugt er sich wieder über die Seiten und fährt fort.

John lächelte den Bärtigen an, der jetzt ganz furchtsam dreinschaute. Dann schlägt er zu. Völlig unerwartet, sicher und hart. Blut spritzt. Der Bärtige taumelt, stürzt zu Boden. Sofort ist John über ihm, zerrt ihn hoch und stößt ihm sein Knie in den Hoden, dass der Kerl vor Schmerz brüllt.

"Halt! Um Gottes Willen halt!" will Manfred erschrocken schreien, doch nur ein heiseres Flüstern entringt sich seinen Lippen. Als wären sie nicht von ihm, gleichsam von Geisterhand fließen die Worte auf das Papier; blutige Worte, grausame Worte, angefüllt mit Tränen und Leid. John steht unbeugsam über dem Bärtigen und schlägt, tritt, brüllt unbändig auf ihn ein. Nichts kann ihn aufhalten, niemand wagt es, ihn zu bremsen, und erst als der lange Besiegte sich nicht mehr rührt, lässt er von ihm ab, lässt ihn im Blute am Boden liegen. Da erhebt er sich und dreht sich langsam herum. Rasch vertiefen die gierigen Gestalten sich wieder in ihre Angelegenheiten. John aber rückt das blutbefleckte Hemd zurecht, streicht sich lächelnd das Haar zurück und geht langsam auf die schöne Frau zu. "Komm", sagt er langsam. Und sie sieht in seinen Augen die Härte und den Zorn und weiß, dass er nur seinen Lohn will. "Nein", schreit Manfred und reißt die Hände von dem Buch. Schweiß steht auf seiner Stirne, und Angst ist in seinen Augen; Angst um das, was jetzt geschehen wird. "Komm schon, du Schlampe", zischt der harte John und geht drohend auf sie zu. Sie weicht zurück, stolpernde Schritte, weiß, dass es keinen Ausweg mehr gibt, ohnmächtige Wut steigt in ihr auf. Sie schreit ihn an, doch der harte John lächelt nur. Er greift nach ihr und fletscht die Zähne. Doch plötzlich fasst von hinten eine kleine, bleiche und mächtig zitternde Hand den Arm der Frau und zerrt sie fort. John greift ins Leere, stößt gegen die Theke und flucht ihr wütend hinterher. Und noch bevor er sich wieder unter Kontrolle hat, ist die Frau geflohen, hinaus durch die Hintertür, gerettet von dem kleinen Klavierspieler; ja, von dem dünnen, verschüchterten Pianisten, der sich vor Angst in die Hose machte, als sie hinausliefen und, so schnell ihre zitternden Beine es zuließen, das Weite suchten.

Manfred lässt sich kraftlos zurücksinken. "Naja, Ende gut, alles gut", denkt er ein wenig kitschig. Nach einer Weile steht er auf, klappt das Buch zu und schaut aus dem Fenster in die Nacht. Was ihn die Geschichte gelehrt hat, weiß er selbst nicht so genau, aber er fühlt, dass er sich morgen eine sehr große Blume kaufen werde und vielleicht eine Gedicht über sie schreiben werde. Und vielleicht, ja vielleicht würde er eines Tages das Klavierspielen lernen, wenngleich er letzten Gedanken wahrscheinlich nicht allzu ernst meint. Später schlägt er das Buch noch einmal auf und sucht nach einem Schlusssatz. Nach einer Weile schreibt er lächelnd: Was aus den beiden geworden ist, weiß keiner so genau. Ob sie zusammenblieben oder nicht, ist fraglich. Aber eigentlich ist das auch gar nicht so wichtig. Sicher ist nur, dass der kleine Klavierspieler nie wieder in den Saloon zurückkehrte, denn dafür hatte er viel zuviel Angst.

© Marc Fey

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