Niemals

Niemals

"Geh weg von ihm, Mädchen. Du änderst es nicht mehr. Geh weg von ihm." Eisig schnitt die Stimme des Offiziers durch die trostlose Einsamkeit des Morgens, dessen fahles Licht mit jedem neuen Glanz nur mehr der Schrecknisse der Nacht entdeckte. Die Straße lag in Grabesstille, nichts regte sich, und nirgends war ein lebendiger Laut als nur der Wind, der klagend durch die hohlen Fenster der zerschossenen Häuser strich. Krähenvögel, die letzten überlebenden der Nacht, kreisten abwartend über den verbrannten Dächern, und Rauch stieg auf zum Himmel an zu vielen Orten.

"Niemals!" sagte das Mädchen und schlang ihre Arme enger um den Hals des Liebsten. Sie zitterte kaum, doch ihre Stimme bebte vor Angst, und über die Orden seiner Brust flossen ihre Tränen. An ihrem Haar, an ihrem Kleide zerrte der Wind, wie fordernd wirbelten Staub und Asche um ihre Füße fort. Sie rührte sich nicht. "Geh fort, Mädchen. Zu was soll es nutzen? Du rettest ihn doch nicht. Lauf heim nach der Mutter, und bete mit ihr für bessere Tage." Der Offizier stand lässig auf das Gewehr gestützt in der Mitte der Straße und betrachtete mit schonendem Gleichmut die zerrissenen Fassaden der Häuser. Einige Schritte von ihm entfernt zwei Soldaten, die Gewehre lose im Anschlag, wartend und, seine Ruhe teilend, nach ihm schauend. Und vor den dreien, an Todes finstrer Schwelle stehend, aufrecht wohl, doch aller Hoffnung beraubt, der Verurteilte. In zitternden Schüben durchkrochen Angst und Entsetzen seinen Körper, die großen Hände krampften sich tief in den Saum der Uniformhose. Der Mund formte tonlos Worte der Angst, wie keine Sprache sie kennt, und das Gesicht zerfloß in schlimmen Tränen, wie das eines Kindes, welches am Rande der Nacht von schrecklicher Furcht erfaßt nach dem Leib der Mutter fleht. "Nun geh schon. Ich mein´ es gut. Erschießen tut weh. Lauf weg! Noch darfst du."

"Niemals!" schrie das Mädchen und schlang ihre Arme fester noch um des Liebsten Hals, preßte ihren Leib so eng sie es vermochte gegen den seinen, und ihre Finger gruben sich fieberhaft, so als könnten Menschenhände halten, was des Todes Klaue umfaßt, in den Kragen der Uniformjacke. "Dann schick du sie fort", sagte der Offizier zu dem Verurteilten. "Wir müssen sehen, daß wir weiterkommen. Hörst du? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Bist nicht der einzige." Der Verurteilte aber hörte nicht. Er spürte den Kuß der Sonne auf der Haut, die Berührung des Windes auf seinem Gesicht. Und er schmeckte, wie süß es zu atmen war, und jede Pore lechzte so sehr nach Leben; doch Aug' in Aug' stand er mit dem Tode. Der Schmerz winkte ihm schon herüber, gehüllt in sein blutigstes Kleid. Wahnsinn kroch in ihm empor, und Verzweiflung schnürte ihm Herz und Kehle zu. "Zum letzten Mal!" sagte der Offizier und hieß die Soldaten mit einer flüchtigen Handbewegung anlegen. "Geh bei Seite! Mir ist es egal. Wer weinen wird, das ist deine Mutter. Hast du denn kein Herz im Leibe?"

"Niemals!" flüsterte das Mädchen und vergrub ihr Gesicht an der Brust des Liebsten. Ein Zittern ging durch ihren Körper, dann stand sie stille und rührte sich nicht mehr.

Rot glühend wie ein blutendes Herz riß die Sonne sich von der Erde los, und schwarze Wolken flohen vor ihr dahin. Der Wind sauste mit Wehklagen durch die Straßen und entfachte von neuem die sterbenden Feuer zu quälendem Brand. Und Todesstille war. Zwei Schüsse fielen, und sie zerrissen das schreckliche Schweigen und hallten hundertfach von den Ruinen wieder, wie spitze Schreie, wie Hohngelächter. Und sie scheuchten die Krähenvögel von den Dächern auf und flohen fort und verloren sich in der Weite des neu anbrechenden Tages.

© Marc Fey

Seitenanfang