Der Spaziergang

Der Spaziergang

"Erzählen Sie doch, Väterchen", bat die junge Frau und lächelte dem alten Herrn freundlich zu, der neben ihr auf der Bank saß und nachdenklich ein Liebespaar beobachtete, welches fern aus der Tiefe der in kühlen Morgennebel gehüllten Allee nahte. "Kennen Sie die zwei? Sie sehen wunderlich aus, nicht wahr? Wie sie dort aus dem Nebel auftauchen, gerade so als kämen sie direkt aus einem Traum spaziert." Da lächelte der alte Herr und schaute auf. Sein Gesicht war runzlig wie eine liegengelassene Kartoffel und der hohe Hut auf dem Kopf eine echte Antiquität. "O ja, junge Dame", sagte er, "Sie haben ganz recht. Wunderlich sind die beiden, das ist gewiß. Es ist das verliebteste Liebespaar, das ich jemals gesehen habe. Sie lernten sich des Nachts beim Tanze kennen und sind seitdem nicht mehr auseinander, ja." "Erzählen Sie mehr.", ermunterte sie ihn, "Ich bin sehr gespannt."

"Nun", begann der alte Herr und rückte sich den Hut zurecht, "er trat aus dem Saal ins Freie und fand sie dort, wie sie die Sterne betrachtete. Ein oder zwei Vögel zwitscherten ihre Lieder, und die Grillen versuchten, es ihnen gleich zu tun. Es war eine Mainacht, grad wie sie heute war. ´Ich werde dich nach Hause begleiten." sprach er zu ihr. "Die Nacht ist dunkel, und dunkel ist des Menschen Herz. Du bist schön, aber du bist schwach. Ich werde dich beschützen.´ Und er straffte die Schultern und blickte sie ritterlich an. ´So laß uns gehen´, sagte sie und faßte vertraulich seinen Arm. ´Der Weg ist weit, aber für zwei Freunde soll er ein Vergnügen sein.´ Also wanderten sie los, die Allee hinab, dann über den Fluß und bald jenseits der letzten schlummernden Häuser hinaus auf das freie Feld. Es war spät, der Mond tief in Träumen versunken, aber die Sterne leuchteten hell und klar, und es war nicht kalt. Der junge Mann war nun außerordentlich damit beschäftigt, das Fräulein recht angenehm zu unterhalten, und obwohl er im Leben noch nicht viel unternommen, gelang ihm das hervorragend, denn er besaß eine blühende Phantasie und war obendrein, wenn es galt, eine Geschichte zu einem blühenden oder gar schaurigen Ende zu führen, um keine Flunkerei verlegen. Nun, was das Fräulein so dachte, bleibt uns ein Geheimnis, jedenfalls lächelte sie immer recht fein und kicherte zuweilen, und wenn ihr Begleiter im Eifer der Rede allzu verwegen erzählte, so röteten sich ihre Wangen. Bald stille bald heiter schwatzend, so zogen sie unter den ewigen Sternen weit über die schlafenden Felder dahin und wurden einander vertraut, so rasch, so wahr, wie selten in der Welt der Augenblick über die Zeit obsiegt. Allein das Rauschen der Getreide begleitete sie und die Lieder der Grillenchöre am Wegesrand. Bald gelangten sie an den äußersten Rand der Felder. Dort lag verlassen und zeitlos eine alte bröckelige Kapelle. Schweigend, doch ohne dunkle Furcht wanderten sie unter den strengen Blicken der heiligen Gemäuer vorüber, und ihre Hände suchten einander und fanden und faßten sich froh. Jenseits lag Heideland, und die Stimmen der Grillen und das Rauschen der Felder blieb zurück, und nur der Wind wie ein Gespensterfreund blieb ihnen zum Gefährten, der säuselnd über die krausschwarze Ebene strich. Ihr Reden wurde ernster, stiller, und oft blieben sie stehen und blickten hinauf zum Himmel und gaben den Sternen Namen. Ach, sie fanden für jeden einen. Doch auch vom Heideland nahmen sie bald Abschied, und sie gelangten an den Rand des rauschenden Buchenwaldes, der allein sie noch von des Fräuleins Heim trennte, und als sie eintauchten in den feuchtraschelnden Baumfrieden, da überkam jeden für sich eine geheime Wehmut. Schweigend gingen sie nebeneinander, und ihre Schritte knirschten über dem steinigen Grund, und ein Flüstern und Lauschen ging durch den Wald ob der späten Wanderer.

´Hier wohne ich´, sagte sie zu ihm, als sie am Ende des Hohlweges vor einem schmiedeeisernen Tor stehenblieben. Jenseits führte ein dunkler Pfad unter Pappeln hinauf nach einem schlafenden Hause. Sie drückte seine Hände und strahlte ihn an. ´Vielen Dank, daß du mich begleitet hast. So mußte ich mich nicht fürchten. Und danke für all deine Geschichten. Du bist ein großer Erzähler. Ach, ich wünschte ich könnte mir jede merken. Lebe wohl!´ Und damit schlüpfte sie durch das Tor und eilte den dunklen Pfad hinauf nach dem Hause. Der junge Mann aber blieb stumm und reglos an der Schwelle stehen und blickte ihr nach. Und erst, als er sie in der Ferne die dunkle Treppe hinaufeilen sah, gab er ihr wie zu sich selbst flüsternd den Gruß zurück. ´Lebe wohl!´ Dann wandte er sich ab und trottete davon, grad so wie ein Träumer oder ein Betrunkener, und für jeden Schritt brauchte er Ewigkeiten. Auf seinem Gesicht war ein Lächeln, das war so rosig, daß jeder Schmetterling ihn Bruder geheißen hätte, und in seinem Blute tobte ein Feuer so heiß, wie es selbst das Eis des Nordpols nicht zu kühlen imstande gewesen wäre. So taumelte er eine Weile wie von allen guten Geistern besucht dahin, und da es nun stockfinster war im Walde, würde es wohlmöglich ein schlimmes Ende mit ihm genommen haben, hätte nicht unverhofft eine Hand mit sanftem Druck seinen Arm gefaßt und ihn einhalten lassen. ´Ach´ seufzte sie, ´ich kann dich doch nicht so gehen lassen´. Und er verschluckte sich vor unverhofftem Glück. ´Es ist so dunkel und gruselig im Wald' fuhr sie fort, ´und du bist so müde, du kannst ja kaum noch gehen. Ich werde dich begleiten, damit du sicher nach Hause gelangst.´ Sie zog ihn fort, und gemeinsam begannen sie den Weg in verkehrter Richtung erneut. Bald war der junge Mann wiederhergestellt und konnte seine Erzählungen mit frischem Eifer fortsetzen. Nicht lange auch, da lag der Wald hinter ihnen, und tiefe Nacht öffnete sich über ihnen und rings um sie her. Der Wind überm Heideland schlief, eine Eule erprobte ihre Stimme, und kleine unordentliche Wolkenfetzen trödelten über den Himmel hin. Leise sprach er zu ihr, und lächelnd lauschte sie, den Kopf leicht schief gelegt, so als würde sie wohl alles vernehmen nicht aber alles glauben, was er so erzählte. Und da sie unter den feierlichen Schatten der Kapelle kamen und in Schweigen fielen, legte sie vorsichtig den Arm um ihn, und er, obwohl ihm die Knie versagen wollten und das Herz den Leib in Aufruhr trommelte, legte den seinen um ihre Schultern. Sie kamen in die Felder, und da er für den Augenblick zu mehr denn Gestammel nicht fähig war, rief sie den Sternen zu und fiel den Grillen ins Lied und versuchte durch Rufe den Mond zu wecken. Denn all denen wollte sie ihn vorstellen. Es bedurfte weiterhin des übrigen Weges über die Felder, eh der junge Mann sich einigermaßen wieder gefangen hatte, und er endlich ein wenig zu lächeln begann. Leise überquerten sie den Fluß, die Straße, die nun in surrender Stille lag und schritten die Allee hinauf. Sie kamen hier vorüber, an der Bank und gingen weiter, bis sie nicht weit von unserem Flecken zu seinem Heim gelangten. Dies war nicht ebenso schön und einsam wie das ihre, denn seine Eltern waren einfache Leute. Es gab kein Tor, keine empfangstehende Bäume, und eine schmale Treppe führte ohne alle Umstände gleich hinauf an die Tür. Er stand oben also, lehnte sich weit über das Geländer und hielt ihre Hände, die sie emporstreckte. Ach, jeden einzelnen Finger küßte er viele hundertmal, und er stammelte wirres und albernes Zeug dazu, wie er sich nie hatte sagen hören, und sie strahlte so sehr, daß ein oder zwei wonnige Sterne aus Eifersucht wohl zerknirscht die Decken über den Kopf gezogen haben. Nun, es läßt sich ahnen, was geschah. Als sie erklärte, daß sie nun gehen müsse, weil ihre Eltern sich sonst sorgten, entbrannte, da er hinaus in die finstre Nacht blickte, so sehr sein Rittermut, daß er auf das Entschiedenste darauf bestand, sie begleiten zu dürfen. Sie wußte, wie man verstehen wird, nicht eine Kleinigkeit dagegen einzuwenden, er eilt die Stufen hinab, und, mit der Erklärung, daß die warme Nacht sehr kalt sei, dicht zueinanderdrängend begann der Weg aufs neue.

Die Grillen sangen wohl noch manches Lied seither, mancher Name wurde an Eule, Grashalm und Stern verliehen, und unendlich viel rührselige Geständnisse hat der Wind am Fuße der alten Kapelle belauscht. Sie blieben zusammen seit jener Nacht, und ließen niemals mehr voneinander, denn sie sind füreinander bestimmt.

"Wer bringt wohl gerade wen nach Hause?" fragte die junge Frau ganz leise und dicht an des Alten Ohr, denn eben wanderte das Paar dicht an ihrer Bank vorüber. "Wer weiß?" flüsterte der Alte zurück und bedeutete ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. "Es ist ganz gleich. Schauen Sie nur, wie gut sie zueinander passen."

Ganz langsam und ohne der Beobachter gewahr zu werden wanderte das Liebespaar vorüber. Der junge Mann war so alt wie der älteste Großvater der Welt. Sein Gesicht war runzlig wie ein gepflügter Acker und würdig und streng. Auf dem Kopfe trug er einen hohen Zylinderhut und in der Hand einen Gehstock mit silbernem Knauf. Seine Schritte waren langsam und würdevoll, und obwohl die Jahre seinen Rücken gebeugt hatten, war sein Gang stolz und elegant wie selten bei einem Menschen. Sein Mädchen aber, das junge hübsche Fräulein, das so viele Namen in sich trägt, war klein und mager und noch viel viel runzliger als er, und überall auf ihrem Angesicht waren die frohen Stunden gemalt gleich neben den traurigen. Sie hatte keinen Stock, denn sie stützte sich auf seinen Arm, und ihre Schritte waren fein und bedacht, als wolle sie einen jeden in ganzer Fülle kosten. Er sprach zu ihr und blickte sie zuweilen an, da sie vorüberwanderten, und sie lauschte aufmerksam auf jedes seiner Worte mit etwas schief gelegtem Kopfe, so als würde sie wohl alles vernehmen, nicht aber alles glauben, was er so sprach, und ihre Augen leuchteten. So spazierten sie weiter und langsam, ganz langsam davon und die Allee hinauf, und die junge Frau schaute ihnen lange nach und weidete sich an ihrem Anblick, bis daß sie fern in den Nebel eintauchten, so wie sie gekommen waren und für die Blicke der Augen verschwanden.

© Marc Fey

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